18 Aug …was von 100 Tagen übrigblieb. Die documenta und das Lenbachhaus
Seit über zwei Monaten läuft nun in Kassel die „documenta fifteen“. Wie kein anderes Kunstevent hat das „Museum der hundert Tage!“, wie die documenta auch gerne genannt wird die Landschaft der Kunstmuseen in unserem Land geprägt. Das gilt auch für die entgegengesetzte Richtung. Impulse für die seit 1955 im Abstand von in der Regel fünf Jahren stattfindende Kassler Kunstschau gingen stets auch von den Museen für moderne Kunst aus, im In- und im Ausland. Über den wechselseitigen Austausch des Münchner Lenbachhaus mit dem Kassler Event beschäftigt sich nun eine Ausstellung in München. Berücksichtig sind dabei die vierzehn documenta Ausstellungen zwischen 1955 und 2017. Die documenta fifteen ist noch nicht einbezogen…
Mythos documenta
Wohl untrennbar mit dem Lenbachhaus verbunden sind die Künstler des Blauen Reiters. Während der Zeit des Nationalsozialismus diffamiert zählten die Kunstwerke nach dem Krieg zu den Flaggschiffen der zeitgenössischen Kunst. Darum spielten sie sowohl im Lenbachhaus seit seiner Eröffnung als auch bei den ersten drei Ausgaben der documenta ab 1955 eine ganz wesentliche Rolle. „Rehe im Schnee“ von Franz Marc, Wassily Kandinskys „Parties diverses“ oder Gabriele Münters „Stillleben in Grau“ sind zwischenzeitlich Ikonen der klassischen Moderne. Auch wurde auf der documenta Kunst angekauft – etwa Asger Jorns Gemälde „They never come back“.
Joseph Beuys
Und dann ist da natürlich Joseph Beuys. Der Name des Düsseldorfer Kunstprofessors ist untrennbar mit der Kassler documenta verbunden. In der derzeitigen Ausstellung zu sehen ist von ihm „Bienenkönigin I“ aus der Sammlung Lothar Schirmer…und gleich eine ganze Reihe von Beuys Plastiken finden wir in einer ständigen eigenen Abteilung.
Leihgaben nach Kassel
…auch in diese Richtung hatte sich das Lenbachhaus betätigt: etwa im Fall von Gerhard Richters „Atlas“ – der 1997 auf der documenta X zu sehen war. Auch bei der jetzigen Ausstellung widmen sich gleich zwei der Ausstellungsräume diesem Thema…
…jenseits Europas…
Seit der documenta XI ging der Horizont der Kassler Kunstschau über die Grenzen Europas hinaus. Doch sollte es noch eine ganze Weile dauern, bis in diesem Zusammenhang ein nicht europäisches Werk Einzug ins Lenbachhaus halten durfte: dies geschah erst 2020 mit Tejal Shahs „Between the Waves“
Künstlerkollektive…
…die sind auf der jetzigen documenta fifteen ganz großgeschrieben. Im Lenbachhaus gab es zu diesem Thema bis vor kurzem eine Sonderausstellung darüber…es kamen dabei Kollektive aus aller Welt zum Zuge!
Die Ausstellung
Beim Besuch begeben wir uns auf eine Zeitreise von 1955 bis heute. Wir dürfen hier feststellen, dass das Lenbachhaus als Institution zeitgenössischer Kunst stets in einem engen Verhältnis mit der Kassler documenta gestanden hat. Und dies hoffentlich auch bleibt
Stellungnahme
Über viele Jahrzehnte hinweg hat die documenta maßgeblich zu einer freien Kunstszene in unserem Land und weit darüber hinaus beigetragen. Schon immer wurde dort politische und umstrittene Kunst großgeschrieben, da war Auseinandersetzung mit heiklen Themen gefragt. Skandale gehörten da fast schon zum guten Ton! Genau das war auch gut so…Beuys etwa hat am Ende das Stadtbild Kassels – mit seiner Baumaktion – bis zum heutigen Tag geprägt! Natürlich gab es auch immer die Meckerer nach dem Motto: „Das soll Kunst sein, das kann doch jeder!“ Oder „Ist das Kunst oder kann das weg?“ Genau das gab der documenta den „verruchten Charme…“
Der Begriff „Museum der hundert Tage“ ist eigentlich nicht ganz richtig, jede documenta Schau hatte bisher ihre Nachwirkung. Die Bezeichnung „Museum während hundert Tagen“ wäre eigentlich die zutreffendere Bezeichnung!
Die diesjährige documenta fifteen zeigt einiges auf, was fehlt läuft. Etwa die ungleiche Verteilung der Güter auf verschiedene Weltregionen, die Menschenrechtslage in vielen Ländern…leider fanden diese Themen bislang in den Medien wenig Beachtung. Da gab es immer nur ein Thema…Antisemitismus…ein Übel, das leider nach wie vor weltweit vorhanden ist. Das konnten wir auf dem großen Banner „People’s Justice“ durchaus sehen…jenem Werk, das nach wenigen Tagen entfernt wurde. Wenn auch der Staat Israel nur als einer von vielen „bösen“ Protagonisten im Weltgeschehen karikiert wurde…kann so etwas zu Antisemitismus anstacheln, oder haben wir hier ein anderes Problem? Werden hier etwa Dinge aus dem Zusammenhang herausgerissen…wie es in der heutigen Zeit bei allen möglichen Themen gerne geschieht? Sind wir alle durch die Informationsflut überfordert?
ZENSUR! …wehret den Anfängen…?
…das ist in der Tat ein großes Fragezeichen. Indem man Kunst wegschafft, liefert man sowohl Kunstinteressierte als auch die Allgemeinbevölkerung nicht den (keineswegs immer objektiven) Beurteilungen in den Medien und im Internet aus? Zu allervorderst dem Stammtischmilieu? Über Kunst, Literatur und selbst auch Musik ist schon zu allen Zeiten lebhaft gestritten worden…und man hüte sich davor zu glauben, dass nur auf dem gegenüber dem Lenbachhaus liegenden Königsplatz damals 1933 jemals Bücher verbrannt wurden. Ähnliche Schandrituale gibt es nach wie vor…
…zurück nach München…
…direkt ins Lenbachhaus. Die derzeitige Ausstellung ist auf unbestimmte Dauer angelegt. Nicht nur jeder, der regelmäßig die documenta Ausstellungen besucht hat, sondern jeder der sich für Kunst der klassischen Moderne und für Kunst nach 1945 interessiert sollte sie mal besuchen. Die Aufmachung und das Ambiente versprühen ein wenig documenta Charme. Für einen oberflächlichen Überblick reicht eine Stunde…wer sich allerdings in die Materie vertiefen will, der kann dort gut und gerne auch einen vollen Nachmittag verbringen!
Ist mitunter recht anspruchsvoll, kann auch anstrengend sein…aber lohnt sich auf jeden Fall!
Beiläufig noch:
wer noch die letzten Wochen bis zum 25.September nach Kassel fährt, dem möchte ich noch einen Tipp mitgeben. Der traditionelle Anfang eines documenta Besuches ist gewöhnlich das Fridericianum. Davon möchte ich bei dieser Ausgabe der documenta abraten (vor allem denjenigen, die nur einen Tag Zeit haben): was dort ausgestellt ist ist schwer zugänglich und mitunter auch recht chaotisch. Eine gute Alternative ist dagegen die gleich daneben liegende documenta Halle – da ist schon der Eingang recht beeindruckend.
Geri ist leidenschaftlicher Fotograf mit einem intensiven Blick für verborgene Details. Er arbeitet ausschließlich digital und zeigt seine Arbeiten u.a. auch bei 24notes.
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