18 Feb VON EINEM, DER AUSZOG, DAS FÜRCHTEN ZU LERNEN
von Frank Witzel, erschienen 2019 im Verlag Matthes & Seitz, Berlin
„Das Universum ist ziemlich unübersichtlich!“ Ritchie
Das Morgen-Grauen ist eine gefährliche Zeit. Zwischen Nacht und Tag erwachen die Dämonen der Seele. Wilde Träume sind Vorboten kommender Wirrnisse. Und dann kommt die Panik: Herzrasen, Luftnot, Beklemmung, Todesangst. Das Gefühl, sich aufzulösen im Strudel aus Körpersymptomen und Gedankenstrudel. Abgebrochene, gebrochene Gedanken.
Es gibt Menschen, die rufen aus Panik mitten in der Nacht den Notarzt, um ein EKG machen zu lassen. Andere rennen von einem Arzt zum anderen, um sich immer und immer wieder durchchecken zu lassen. Und wenn wieder kein Befund da ist, ist das noch lange keine Erleichterung. Im Gegenteil: Manchem wäre eine körperliche Krankheit lieber als dieses emotionale Durcheinander.
Der Schriftsteller, Radiomoderator und Musiker Frank Witzel, geboren 1955 in Wiesbaden, kennt diesen hochemotionalen Zustand, der sich Hypochondrie nennt. Mit dem belächelten eingebildeten Kranken von Molière hat das nichts zu tun. Und nicht jeder ist so ironisch unterwegs wie Woody Allen, der aus jedem kleinen Anfall einen neuen Film macht. Hypochondrie ist eine ernste psychische Krankheit, die einen an den Rand des Nervenzusammenbruchs bringen kann. Wenn man nicht mehr herausfindet aus der Gedankenschleife, dem Endlos-Loop.
Die Geburt des „metaphysischen Tagebuchs“
Vielleicht ist seine Hypochondrie der Grund, warum Frank Witzel angefangen hat, ein „metaphysisches Tagebuch“ zu schreiben. Er hat es „Uneigentliche Verzweiflung“ genannt: uneigentlich, weil es ihm doch eigentlich gut geht, er privilegiert lebt, aber die Verzweiflung eben doch hinter allen Dingen lauert.
Metaphysik liegt jenseits der empirischen Ebene. Metaphysik geht über den Körper hinaus ins Unendliche. Und doch ist der Körper unsere Homebase, die Basis von allem, was wir tun. Und so fragt sich Witzel: Kommen die Gedanken aus unserem Körper, ist es der Körper, der uns denkt – oder ist es nicht doch eher umgekehrt, dass die Gedanken die Vorgänge im Körper bestimmen?
Kierkegaard und die Existenzphilosophie
Eine hochphilosophische Frage. Ja, eine existenzielle Frage, berührt sie doch die Grundfesten des Menschseins. Sören Kierkegaard, der dänische Philosoph, Theologe und Schriftsteller, 1813 in Kopenhagen geboren, gilt als Wegbereiter der Existenzphilosophie. Er unterscheidet drei Zustände des Menschen: das ästhetische Stadium, die ursprünglichste Stufe, in der der Mensch ganz in der sinnlichen Empfindung lebt, ohne sich über sich selbst im Klaren zu sein. Daraus resultiert eine latente Verzweiflung. Mit dem Mittel der Ironie, die Distanz schafft, entkommt er diesem verzweifelten Zustand und gewinnt das Stadium der Selbsterkenntnis. Der Mensch erhält die Fähigkeit, das Verhältnis zwischen Körper und Geist zu reflektieren und erkennt Verantwortung vor sich selbst und der Welt.
Die Verzweiflung, so Kierkegaard, ist die Grundstimmung des menschlichen Lebens. Erst im dritten Stadium, dem religiösen, akzeptiert er seine Existenz vor Gott. Wenn einem das Scheitern des Verstandes bewusst wird, steht der Weg zum Glauben offen. Das ist die Erkenntnis der eigenen Begrenztheit. Im Augenblick des Glaubens gibt es keine Verzweiflung mehr.
Frank Witzel bezieht sich auf Kierkegaard. Das Schreiben am Tagebuch war schwerste Seelenarbeit. Und immer wieder stößt Witzel an seine Grenzen, begibt sich auf unwegsames Gebiet: „Der Körper ist und bleibt doch das Unheimliche“, sagt er. Manchmal sei ihm dieser Frank Witzel beim Schreiben selbst fremd geworden, aber es blieb ihm nichts anderes übrig, als sich ihm zu stellen, Notiz für Notiz.
…die erste Seite
23.09.2018. Gleich auf der ersten Seite von Witzels Tagebuch geht es in medias res: „Man kann im Leben scheitern. Man kann im Erzählen scheitern. Aber nicht im Denken.“
Denken, schreiben, atmen – das ist das Prinzip Witzel. Sein philosophisches Tagebuch ist word in progress, seine Sprache von einer manchmal altertümelnden Sinnlichkeit. „Die Seele, die unverbunden im Körper herumfällt, einmal da anstößt, einmal dort und so Schmerzen verursacht, erzeugt eine Form der männlichen Hysterie, die sich in den Gottestrunkenen und Märtyrern zeigt.“ Das blitzt Klaus Theweleit durch und sein Jahrhundertwerk „Frauen – Fluten – Körper“.
Die Pole, zwischen denen Witzel sich bewegt: „die konkrete Vorstellung, die erzählt werden will, und das Denken, das sich immer wieder vom Konkreten lösen möchte“. So steckt er in einer Zwickmühle. Was hilft aus diesen Kopfgeburten: das Schwimmen. Er kenne, witzelt Witzel, alle Schwimmhallen dieser Republik. Schwimmen, atmen – das lebenserhaltende Prinzip.
Erfahrungen mit Therapie
Natürlich hat Witzel seine Erfahrungen mit der Therapie gemacht. An der Psychoanalyse lässt er kein gutes Haar. „Die Patienten sind ein Gesindel“, soll Freud gesagt haben. Sie sind für den Analytiker Material, die Analyse ist keine talking cure, sondern eine writing cure – für den Therapeuten. Durch seine Notizen heilt er sich selbst. Helfen kann er dem Patienten sowieso nicht.
Der Schmerz ist sein ständiger Begleiter, das Leiden faszinierend, weil es dem Leben einen Sinn verleiht. „Was würde ich stattdessen machen“, schreibt er, „wenn ich mich nicht mit aller Kraft aus einer Form des Leidens herausdenken müßte?“ Das Leben wäre leer, ja sinnlos. „Was ist, wenn jenseits des Leidens nur eine ewige Ödnis wartet?“ Was ist, wenn die Struktur durch das Leiden wegfällt?
Buchvorstellung in einer besonderen Lokalität
Man merkt dem Schriftsteller all dieses Grübeln und Leiden nicht an, wenn man ihm persönlich begegnet. Er wirkt unprätentiös, offen, sehr zugewandt. Anlässlich des Literaturfestes München, stellte Witzel im Theateratelier München (ein künstlerisches Zentrum für Menschen mit kreativen Interessen und psychosozialen Schwierigkeiten) sein metaphysisches Tagebuch vor. Nein, eigentlich stellte er sich selbst vor und sprach mit den Zuhörern, die allesamt von seelischen Krisen gebeutelt sind. Die eigentliche Lesung dauerte vielleicht sieben Minuten. Der Rest war Dialog. Aufmerksam und empathisch will Witzel von den einzelnen wissen, was an quälenden Gedanken von der Nacht übrigblieb.
Träume zum Beispiel. Am 29.10.2018 notiert Witzel einen Traum: Er ist irgendwo am Meer, in einer Art Gottesdienst. Plötzlich die Entdeckung, dass er nackt ist – im Unterschied zu anderen Träumen macht ihm das nichts aus. Aufatmen, kein Alptraum.
„Mein Leben ist kafkaesk“, sagt Witzel, der in der Nähe von Wiesbaden lebt. Sein Tagebuch hat er ohne Plan angefangen, in einer seelischen Krise, zwei Monate lang immer nach vorne geschrieben, nie zurückgeblättert. „Es ist ein privates Erzählen ohne Maske, ganz anders, als wenn ich mich hinter einer Romanfigur versteckte.“ Dass sein Verlag (Matthes & Seitz) das Buch unzensiert veröffentlicht hat, ohne auf Auflagen zu schielen, wundert ihn noch heute.
Persönliches – ohne Zensur
Diese unaushaltbaren Zustände im Morgengrauen, wenn einem vor dem Morgen graut. In seinen Ängsten und Panikattacken spürt Witzel sie extrem, die existenzielle Einsamkeit. Oder kommt die Angst nicht vielmehr aus dieser Einsamkeit? Sich im Dunkeln zu fürchten, das ist die älteste Kinderfurcht. Dann nach der Mama rufen, die das Licht anknipsen muss, damit die Schatten von den Wänden verschwinden, die das Kind in Angst und Schrecken versetzen. Wenn man erwachsen ist, ruft man eben nach dem Notarzt. Aber dessen Trostfaktor ist gleich null.
Schlaflose Nächte machen Angst, weil die Dunkelheit sich endlos zu dehnen scheint. Das Geworfensein ins Universum. Die „funkelnden Sterne am Firmament“ – das war vor der Klimakatastrophe. Stehen Sie auf, bügeln Sie, lösen Sie Sudoku, wenn Sie nicht schlafen können, schreiben die einschlägigen Ratgeber. Ich stehe auf, schalte den Fernseher ein und rauche eine Zigarette (schade, dass es keine Emojis auf dem Laptop gibt, ich liebe die qualmende Kippe!). Es kommt ausgerechnet der uninspirierte Markus Lanz. Er interviewt Harald Krassnitzer, den Wiener „Tatort“-Kommissar. Wie schön, ein vertrautes Gesicht. Fernsehfamilie. Schwarzer Anzug, schwarze runde Brille, graue Haare. Er könnte mal wieder zum Friseur. Krassnitzer redet vom Weltuntergang, der jeden Tag ist, von der Bedeutung der Rauhnächte (so der Titel seines ersten Buches). „Wir sind permanent in einem Hochfrequenzbereich“, sagt er. „Bamm, bamm, bamm, werden bombardiert mit Nachrichten.“ Er hat sich über Weihnachten digital detox verordnet, zwölf Tage ohne Smartphone, Mails, Nachrichten. Der Weltuntergang findet auch ohne ihn statt.
Frank Witzels „metaphysisches Tagebuch“ endet am 23.11.2018. Der letzte Satz, ein Spreng-Satz: „Paradies: Gott spielt keine Rolle mehr, und ich bin erledigt.“
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