Fantastische Wesen - Herr P und seine Laufbahn als Künstler - 24notes
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Fantastische Wesen – Herr P und seine Laufbahn als Künstler

Fantastische Wesen – Herr P und seine Laufbahn als Künstler

Vor einiger Zeit streifte Herr P durch den Stadtpark. Es war ein kalter Samstagnachmittag im Monat Dezember, es lag Schnee und die Wege waren nur schlecht gestreut. Man tat also gut daran aufzupassen, damit der Spaziergang nicht mit einem Sturz oder gar noch im Krankenhaus endete. Wie immer hatte P seine Kamera in der Tasche. Ein mittlerweile etwas älteres Modell, etwas besser als die Kamera eines Smartphones. Auch wenn er wusste, dass heute wohl nicht sehr viel mit Fotografieren drin ist. Wie viele andere hatte er auch keine richtigen Handschuhe mehr bei sich zu Hause – dem Klimawandel sei dank.

Das Schlüsselerlebnis

Doch plötzlich traute er seinen Augen nicht mehr. Vor ihm flog eine Unzahl von Schattenwesen vorbei. Manche von ihnen hatten es sich auch an einem Ast oder Baum bequem gemacht. Wie ein Theaterstück spielte sich das Schauspiel vor ihm auf dem dicken Baumstamm ab. Etwas vorsichtig drehte sich Herr P dann um, um die Wesen nicht nur als Schatten, sondern leibhaftig zu erblicken. Doch was er sah, das war nur die grelle Sonne, ansonsten keine Spur von irgendwelchen Wesen. Also drehte sich unser Herr P abermals um hundertachtzig Grad…und da waren sie wieder da…die Schatten waren eindeutig da. Deswegen holte er jetzt seine kleine Kamera aus der Tasche und machte rasch ein paar Fotos…wie gemerkt, kurz bevor ihm die Finger einfroren.

Nochmals drehte er sich einmal halb um die eigene Achse…doch wieder sah er nichts…oder fast nichts. Kurz meinte er, den Anblick eines gelbfarbigen Zaubervogels erblickt zu haben. Aber nur für etwa zwei oder drei Sekunden – als er den Auslöser drücken wollte, da war das seltsame Wesen im Nichts verschwunden.

Langsam wurde ihm der Spuk unheimlich. Er zog weiter und versuchte, trotz allem seinen Nachmittagsspaziergang zu genießen. Aber die Sache beschäftigte ihn. Was war denn da los? Er bekam es mit der Angst zu tun. Mit jemanden darüber sprechen, nein, das war nicht so einfach. Es könnte ja passieren, dass man ihn verrückt hielte und im auch schlimmsten Fall einweisen würde. Also musste er die Sache doch für sich behalten. Die Schatten hatte er aber doch fotografiert.

Das rätselhafte Phänomen

Zurück zuhause recherchierte er in seinen Büchern und im Internet. Bis in die Nacht biss er sich die Zähne aus. Auch lud er die Bilder von seiner Kamera auf seinen Computer. Soll er nun die Bilder veröffentlichen? Bei facebook posten? Nein, das wäre wohl keine gute Idee. Man würde die Bilder dort wahrscheinlich als Fälschung, oder wie man heute auch sagt als „Fake News“ ansehen. Oder als Witz abtun. Schlauer würde er dadurch also wohl nicht. Und noch etwas: wenn er es schlau anstellte, dann könnte er mit den Fotos doch sogar anständig Geld verdienen. Fotos von übernatürlichen Schattenwesen, das wäre eine Sensation. Wenn die Bilder in die richtigen Hände geraten wäre er um ein paar finanzielle Sorgen ärmer.

Auflösung Fehlanzeige

Also entschied er sich für einen Kompromiss: er fand ein englischsprachiges Portal für Fragen aus Mystik, übernatürlichen Kräften und Okkultismus. Dorthin schicke er eines seiner gut zwanzig Bilder. Aber es regte sich nichts…die Tage vergingen und er bekam keine Antwort. Auch er selbst recherchierte weiter, in allen möglichen Bibliotheken in der Stadt, auch in den Fachbibliotheken einer ganzen Reihe von Hochschulfakultäten, z.B. bei den Theologen und Philosophen, bei den Anglisten (in England gibt es ja bekanntlich ganz besonders viele Gespenster), aber auch bei den Historikern und Psychologen. Dadurch erfuhr er zwar über die unglaublichsten Phänomene, den Schlüssel für sein Anliegen aber fand er nicht. Und nach drei Wochen kam auch endlich die Antwort per e-mail: man hielt das Foto für eine Fälschung.

Psychoanalyse?

Herr P. machte sich dann Sorgen um seine seelische Gesundheit. Also unternahm er doch noch den Schritt in eine psychiatrische Praxis, mitsamt den Fotos in der Tasche. Der Arzt, ein gewisser Dr. M. schaute P in die Augen, und gleichzeitig begutachtete er die Fotos. „Aber Herr P“, meinte dann der Doktor, „sie brauchen mir nichts vorzumachen. Sie machen auf mich auch keinen kranken Eindruck. Kennen Sie die Geschichte vom Baron von Münchhausen?“ P hatte zwar davon gehört, aber konnte die Handlung in seinem Kopf nicht rekonstruieren, also schüttelte er den Kopf. „Nun ja, ich habe für vieles Verständnis, aber ja, was ich sie fragen will, was machen sie denn beruflich?“ P. wunderte sich über die Frage und gab ganz nüchtern darauf spontan eine falsche Antwort „Finanzbeamter“. „Ach ja“ meinte Doktor M. „haben sie ein schlechtes Gewissen. Haben sie etwa dafür gesorgt, dass ein Steuersünder im Knast landete? Einer der vielleicht inzwischen schon gestorben ist? Und jetzt erscheint vor ihnen sein Geist? Oder sie bilden sich das vor lauter Gewissensbissen ein? Oder gab es früher während ihrer Kindheit Konflikte im Elternhaus? War ihr Vater Alkoholiker? Also um es kurz zu machen, ich denke sie sind imstande ihre Probleme selbst zu lösen. Ich sehe zwar dass sie etwas herum spinnen. Aber mit diesen Fotos, da sind sie weder eine Gefahr für andere noch für sich selbst. Deswegen keine Angst, Sie in eine Klinik einweisen halte ich für den größten Schwachsinn. Da ist kein Platz für Leute wie sie. Und von einer Analyse halte ich auch nicht viel bei ihnen.“

…und am Ende

„Mein Rat an Sie: setzen Sie sich zuhause in aller Ruhe hin, und verzichten sie einmal einen Tag auf alle Bücher, das Internet und möglichst auch auf das Fernsehen. Sie lieben ja Klassik wie ich weiß, legen sie eine passende Musik: auf vielleicht die „Nacht am Kahlen Berge“ von Mussorgsky oder vielleicht auch die Wolfschluchtszene aus dem „Freischütz“ von Weber…und lassen ihren Gedanken freien Lauf. Dann schauen sie ihre Bilder an, und schreiben auf was ihnen dazu einfällt. Steigen sie auf das Flügelross auf, und fliegen hinaus…ich bin ja kein Künstler wie Sie, aber ich hatte schon ein paar Patienten, die sich auf eine ähnliche Weise sogar erst zum Künstler gemacht hatten.

Sie kennen vielleicht den Max Stern, den Bildhauer, den habe ich damals als Assistenzarzt in der Klinik kennengelernt. Vor über zwanzig Jahren. Habe immer noch Kontakt zu ihm, habe ihm inzwischen auch drei seiner Skulpturen abgekauft. Ein Jahr nachdem er damals aus der Klinik draußen war hat er mit dem Kunststudium angefangen, Fachrichtung Bildhauerei. Seine Liebe zur Kunst hat er bisher nicht aufgegeben, er verdient auch nicht schlecht damit. Also dann, versuchen sie es auch.

„Aber Sie haben mir gerade etwas gesagt, das Sie gar nicht sagen dürften“

„Nein, alles was ich Ihnen jetzt über Max Stern erzählt habe hat er laut und breit in seiner Autobiographie heraus posaunt. Alle die ihn wirklich kennen wissen das.“

Leider verstarb unser Herr P nur gut ein Jahr später an Krebs. Einige Bilder hat er mir nur wenige Wochen vor seinem Tod zukommen lassen. Mit dem Einverständnis seines Alleinerben möchte ich hier eine Auswahl dieser Bilder veröffentlichen.

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