12 Mai Kennst du dein wahres Selbst?
In der spirituellen Szene ist das ein vielgebrauchter Begriff: das wahre Selbst. Doch selten finden die Lehrer der verschiedenen spirituellen Wege eine Erklärung, um was es sich dabei handelt. Es erscheint zwar als begehrenswertes Ziel, dieses Selbst zu erkunden. Der Grund, weswegen wir uns darum bemühen sollten, bleibt aber oft im Dunkeln. Weshalb ist das so?
Das Ich, das Ego und das wahre Selbst.
Wenn Du als Baby auf die Welt kommst, unterscheidet dein Geist nicht zwischen dir und mir; du ruhst im reinen Da-Sein. Erst später fängst du an, ein stabiles Ich zu entwickeln. Erst aus Empfindungen und dann aus Gedanken. Du hast gelernt, eine Vorstellung von dem zu entwickeln, wer und was du bist. Diese Vorstellung ist jedoch nichts weiter als das fortwährende Gedankenkino in deinem Kopf, das du als Wirklichkeit wahrnimmst. Deine Ich-Vorstellung ist dem zufolge ein Konstrukt deiner Gedanken.
Daraus entwickelt sich das Ego, welches zu seiner festen Implementation von Bewunderung und Überlegenheitsgefühlen lebt. Werden diese Gefühlswünsche nicht ausreichend bedient, mischen sich Neid und Missgunst dazu. Dein Ego will alles haben und sich damit über andere erheben. Klingt nicht so toll? Ist es auch nicht – und so kommen wir zum wahren Selbst.
Ziel vieler spiritueller Übungen ist es, das Ich und das Ego zu überwinden, um dann zum wahren Selbst zu gelangen. Schließt sich nun der Kreis und wir finden in diesem wahren Selbst den reinen Geist, den wir als Neugeborenes schon besessen haben? Nun, vielleicht. Vielleicht ist das wahre Selbst aber auch der Strippenzieher hinter dem Gedanken-Ich, den die Christen Seele und die Hindus Atman nennen? Die Lebensenergie, die sich stets erhält, auch wenn unser Körper stirbt?
Non-Dualität
Spätestens jetzt treten wir mit unseren Betrachtungen in die Sphären des Glaubens ein. Weder Psychologie noch Neurologie helfen hier noch weiter. Für die Atheisten unter uns: Denken wir uns einfach mal, dass es die Seele nicht gibt: Was wäre dann das Gegenstück zum Ich? Das Nicht-Ich zum Beispiel? OK. Nehmen wir das einmal so hin.
Da es ein Nicht-Ich – wie der Begriff schon sagt – nicht gibt und das Ich eine Illusion der Gedanken ist, bleibt nichts übrig, was es wirklich gäbe. Reine Leere. Dann sind wir beim ZEN. Alles ist eins und alles ist nichts.
Dein wahres Selbst
Mischen wir die Gedanken wieder zusammen, erhalten wir ein buntes Bild des wahren Selbst:
- den reinen Geist
- die Seele/Atman/Lebensenergie
- das Nichts
Warum also sollst du dich auf die Suche nach dem wahren Selbst machen? Oder anders formuliert: Wo liegt die Triebfeder dafür, dich mit spirituellen Dingen und einer nach innen gewandten Sinnsuche zu beschäftigen? Die Antwort ist einfach: Du wurdest enttäuscht
Enttäuschung führt zur Sinnsuche.
Deine beruflichen Erfolge bleiben aus oder sind nicht annähernd so befriedigend wie erhofft. Dein Partner/deine Partnerin/deine Familie ist deutlich anstrengender als du dir das ausgemalt hast. Der Alltag frisst dich auf und deine kleinen Ausflüchte (Reisen, Sport, Wellness, etc.) machen nach dem 10. Mal auch keinen richtigen Spaß mehr. Solche oder ähnliche Erfahrungen haben wir alle. Die Suche nach Sinn und Zufriedenheit wird eine Suche nach dir selbst. Was ist wichtig? Das, was du bist? Das, was andere in dir sehen? Das, was du besitzt?
Das Ziel ist dir nun klar: Du willst dich selbst erkennen und dauerhaftere Zufriedenheit erlangen.
Was ist Zufriedenheit?
Zufriedenheit ist das Ergebnis deiner Bemühungen oder von äußeren Umständen, die dazu führen, dass du kein Leid empfindest. Du empfindest kein Leid, wenn es keine Diskrepanz zwischen deinen Vorstellungen/Wünschen und der Wirklichkeit gibt. Das ist eine Erkenntnis, die Buddha schon vor ungefähr 2500 Jahren formulierte.
Das Leben lehrte dich, das dauerhafte Zufriedenheit von außen nicht kommen kann. Also musst du in deinem Inneren suchen. Wo liegt aber nun der Weg zum inneren Frieden? Die spirituellen Lehrer empfehlen dir zu meditieren, um deinen aufgewühlten Verstand zur Ruhe zu bringen.
Doch der innere Frieden entsteht nicht durch das Fehlen von Gedanken und Gefühlen, sondern vielmehr damit aufzuhören, bestimmte Gedanken (gute) und Gefühle (wohlige) zu bevorzugen, um andere (schlechte) zu verdrängen.
Lies diesen wichtigen Satz nochmal
Der innere Frieden entsteht nicht durch das Fehlen von Gedanken und Gefühlen, sondern vielmehr damit aufzuhören, bestimmte Gedanken und Gefühle zu bevorzugen, um andere zu verdrängen.
aus: Enttäuschung – eine besondere Einführung ins ZEN von Alexander Poraj
Wenn du beginnst, nicht mehr zu unterscheiden und gleichwertig annimmst, was ist, herrscht immer Frieden. Hier liegt meiner Meinung nach auch der Schlüssel zum Verständnis des Shinjinmei (einer der Basistexte des ZEN) aus der Feder des Zenmeisters Sosan (ca. 600 n. Chr.). Hier die erste Strophe:
Der höchste Weg ist nicht schwer
wenn du nur aufhörst zu wählen.
Wo weder Liebe noch Hass,
ist alles offen und klar.
Aber die kleinste Unterscheidung
bringt eine Distanz zwischen Himmel und Erde.
Soll Es sich dir offenbaren,
lass Abneigung wie Vorliebe beiseite.
Der Konflikt zwischen Neigung und Abneigung
ist eine Krankheit des Geistes.
Wird diese tiefe Wahrheit nicht verstanden,
versuchst du deine Gedanken vergeblich zu beruhigen.
Das wahre Selbst ist nichts Weiteres als das Bewusstsein im einfachen So-Sein. Nicht mehr und nicht weniger.
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Autor, Fotograf, Blogger und Initiator von 24notes, dem Magazin für Literatur, Fotografie und der Kunst, das Leben zu verstehen.
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